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Familien in Bewegung

Gegen die Erwartungen der Verwandtschaft handeln

Von Barbara Peron

Als meine Grundschullehrerin uns Mitte der 70er-Jahre die Aufgabe erteilte, unsere Familie zu zeichnen, malte ich mich selbst, meine Eltern und dazu noch meinen Cousin. Denn es war ungewöhnlich zur damaligen Zeit als Einzelkind in Italien aufzuwachsen. Inzwischen ist das keine Seltenheit mehr: Die Familien sind dort extrem klein geworden, und genau so wie hier auch vielfältiger.

Es gibt neben den ganz traditionellen Familien solche, in denen die Eltern nicht verheiratet sind, Patchworkfamilien, LGBT-Familien usw. Nach wie vor gilt aber: Die Familie spielt in der italienischen Gesellschaft eine bedeutende und zentrale Rolle, und zwar nicht nur als soziales Netzwerk.

Familien mit kleinen Kindern haben oft das Problem der Kinderbetreuung. Nur rund sieben von 100 Kindern unter drei Jahren bekommen derzeit in Italien einen Krippenplatz. So übernehmen die nonni, die Großeltern, wo es geht die Betreuung der kleinen Kinder. Seit Anfang der Wirtschaftskrise ist außerdem für viele junge Erwachsene die Familie der einzige Rettungsanker gegen die Leistungsunfähigkeit des Staates. Die Familie ersetzt den Sozialstaat.

Familien mit kleinen Kindern haben oft das Problem der Kinderbetreuung. Nur rund sieben von 100 Kindern unter drei Jahren bekommen derzeit in Italien einen Krippenplatz. So übernehmen die nonni, die Großeltern, wo es geht die Betreuung der kleinen Kinder. Seit Anfang der Wirtschaftskrise ist außerdem für viele junge Erwachsene die Familie der einzige Rettungsanker gegen die Leistungsunfähigkeit des Staates. Die Familie ersetzt den Sozialstaat.

Dieser Gedanke ließ und lässt auch die ausgewanderten Kinder nicht los. Die Antwort auf diese Frage ist ernst zu nehmen: Was geschieht mit den Eltern in der alten Heimat, wenn sie alt und nicht mehr selbständig sind? Nach dem Tod des Partners oder wenn keine Geschwister mehr im Lande sind? Manche entscheiden sich fürs Zurückkehren, andere pendeln für eine gewisse Zeit zwischen der alten und der neuen Heimat. Das ist natürlich nur machbar, wenn die Entfernung nicht zu groß ist bzw. wenn die Arbeitsbedingungen es erlauben. Falls die Umstände und die Bürokratie es erlauben, sollte es möglich sein, dass die Eltern in die neue Heimat mit umziehen. Oft fällt ihnen das aber schwer.

Jahrelang habe ich mir die Frage gestellt: Was soll ich tun? – Als es so weit war, stellte ich aber fest, dass mein Vater gerne nach Freiburg mitkommen wollte. Ich fand seine Entscheidung einerseits erstaunlich, andererseits mutig. Erstaunlich, weil er fast sein ganzes Leben in Venetien verbracht hatte und ich hatte ihm den Willen zu einem solchen Umzug mit 85 Jahren nicht zugetraut. Mutig, weil er – trotz einiger Besuche – weder die Sprache noch diese Stadt wirklich kannte. Außer mir und einigen Freunden von mir hatte er hier niemanden und auch mit den meisten Altersgenossen seiner Landsleute hatte er, außer der Sprache, kaum etwas gemeinsam. Er war nie Gastarbeiter gewesen und seine Lebenserfahrungen waren völlig andere, auch was die Deutschen betraf. Diese waren für ihn einerseits die international relevanten Altphilologen seiner Generation, anderseits die deutschen Urlauber an Italiens Stränden in den 70er-Jahren. Letztere fand er lustig, aber er konnte nicht viel mit ihnen anfangen. Mit Ersteren hatte er sich sein Leben lang beschäftigt; sie existierten aber nur (noch) in seinen Büchern. Der Alltag war anders; manchmal nicht nur für ihn, sondern auch für mich anstrengend; und dennoch hat es sich gelohnt.

Meine Erfahrung habe ich erzählt, weil sie für andere nützlich sein kann: für diejenigen, die sich vielleicht nicht zutrauen, gegen die Erwartungen der Verwandtschaft den eigenen Weg zu gehen, weil sie aus einem noch patriarchalischen Kulturkreis stammen; – oder vielleicht für diejenigen, die jetzt vor der Frage stehen: Was soll ich mit den Eltern in der Heimat tun? Meine Geschichte soll kein Rezept sein, vielmehr ein möglicher praktizierbarer Weg.

Die Familien sind vielfältiger geworden. | Illustration: Carmen Luna

Illustration: Carmen Luna

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