zurück

Die ängstlichen Menschen sollen versuchen die aufgeklärten Menschen zu verstehen

Ein Gespräch mit Robert Menasse

»Kaas-Wirt« Mustafa und Robert Menasse. Foto: kwasibanane

Foto: kwasibanane

Robert Menasse im Gespräch mit RedakteurInnen der InZeitung (Viktoria Balon, Carmen Luna, Melisa Mustafovic, Alexander Sancho-Rauschel, Reinhardt Jacoby, Ketevan Bakhia und Joseph Dreier). Zusammengestellt von Barbara Peron und Viktoria Balon.

Wir, das heißt die gesamte Redaktion, sitzt an diesem Samstag mit Robert Menasse am Karmelitermatkt an einem Tisch. In einem gemütlichen wienerisch-europäischen Café, das von einem Marokkaner geführt wird. Und genießen den sonnigen Herbsttag, das Frühstück mit Kaffee und Wein, und vor allem das Gespräch. Das Ganze um 13 Uhr. Und wir sind neugierig.

Erzählen Sie uns bitte etwas über diesen Ort!

Robert Menasse: Das ist die Leopoldstadt, der Zweite Bezirk. Historisch war dies die Judenstadt. Dieser Bezirk hatte eine ganz eigene Entwicklung. Da niemand bei den Juden wohnen wollte, war hier der Wohnraum sehr billig. Es sind später natürlich viele Arbeiter hierher gezogen, also die ärmsten Hilfsarbeiter, die für den Straßenbau aus Böhmen nach Wien kamen. Weil die Juden und die Proletarier hier wohnten, ist der Wohnraum noch billiger geworden und also sind auch die Huren in dieses Viertel gezogen. Nun wohnten hier dann Juden, Proletarier und Huren.

Als die Migranten, also Jugoslawen, Türken usw. nach Wien kamen, haben sie geschaut, wo es billig war, und das war hier. Jetzt wohnten hier Juden, Proletarier, Huren und Migranten. Es war endgültig ein Viertel, wohin man als normaler Wiener nie hinging.

Aber plötzlich haben Studenten diesen Raum entdeckt und erkannt, dass es hier billig war; und auch Künstler haben gesehen, dass man sich hier in den große Flecken des Sterbenden Handwerks einlogieren konnte. Für wenig Geld ließen sich ganze Lofts mieten. Dann wollten die Künstler und die Studenten an den Abenden um die Ecke ein Bier trinken und so sind die Lokale entstanden. Dieses Viertel wurde plötzlich zu einer lebendigen Wien-Szene. Diese Gentrifizierung hat massiv Ende der 1980er Jahren begonnen, und je mehr Künstler und Studenten hierherzogen, desto teurer wurde der Wohnraum im Viertel.

Heute ist er der teurste Bezirk Wiens. Meine Großeltern haben hier um die Ecke gewohnt, nachdem das Haus, das sie in Döbling hatten, von den Nazis geraubt und ihr Viertel arisiert wurde. Meine Großeltern mussten von Döbling hierher, in die Judenstadt, umziehen. Deshalb landeten sie hier. Und auch nach dem Krieg, den sie überlebt haben, blieben sie hier. Als ich 17 Jahre alt war, fragte ich meinen Großvater: »Warum habt ihr euer Haus in Döbling nicht zurückverlangt? Es wurde doch geraubt und es gab schon Restitutionen?« Und mein Großvater antwortete: »Ich wollte nicht mehr mit dem Beamten zu tun haben, der uns das Haus weggenommen hat. Denn der saß noch da und sollte sich um die Wiedergutmachungen kümmern.« Meine Großeltern haben also auf ihr Haus verzichtet und sind in der kleinen Wohnung hier geblieben: Und hier habe ich meine Kindheit verbracht. Ich bin mit meiner Großmutter immer auf diesen Markt gegangen. Es gibt heute noch den koscheren Metzger und koschere Lebensmittelhändler. Damals war es ein ganz armes Viertel und es gab eine unsichtbare Grenze, weil auf der anderen Seite das Rotlichtviertel begann: hier koscher und dort das Rotlichtviertel. Für mich als Kind war das aufregend.

Es war ein Viertel mit riesigen inneren Widersprüchen und heute ist es »multikulti«. Das Krankenhaus hier war für die Ärmsten der Stadt gebaut worden. Im Alltag begegnet man hier christlichen Schwestern, Mädchen mit Kopftuch und orthodoxen Juden mit dem Kaftan, allen miteinander. Es ist total friedlich hier, ohne Aggressionen, und ist einfach der Bezirk, in dem das Zusammenleben dieser ganzen Religionen und Ethnien gut funktioniert. Im Volksmund heißt der Bezirk »Matzeninsel«.

Diese Kulturen existieren also friedlich nebeneinander, nicht miteinander. Oder gibt es einen Austausch?

Man kann sicher nicht von einem produktiven oder aktiven Austausch sprechen, aber es ist doch eine Art von Austausch. Ich habe nichts gegen Mädchen und Frauen mit Kopftuch, solange sie nicht meine Frau oder meine Tochter zwingen, ein Kopftuch zu tragen. Ich muss mir auch nicht erklären lassen, warum sie es tragen. Ich persönlich habe ein großes Problem mit jeder Form von Orthodoxie. Ich bin jüdischer Herkunft, aber ich befolge nicht die jüdischen Riten. Mein Großvater z. B. war ein radikal assimilierter Jude; er war Offizier in der Habsburgischen Armee im Ersten Weltkrieg – er war Österreicher. »Erst Hitler«, hat mein Großvater gesagt »hat mich zum Juden gemacht«. Ich finde Orthodoxie nicht gut, aber es gibt auch eine friedliche Orthodoxie. Deshalb lebe ich hier, obwohl Orthodoxie mich beunruhigt. Wenn ich durch dieses Viertel gehe und die orthodoxen Juden in ihren Kaftanen sehe und mit ihrem Gebetschal usw. dann denke ich, solange ich sie auf der Straße sehen kann, ohne dass jemand sie behelligt, muss ich keine Angst haben. Das ist für mich der Austausch mit der Orthodoxie: eine Art Lebensversicherung.

Aber was hat eine muslimische Frau mit einem jüdischen Rabbiner in Kaftan zu tun? Jeder hier im Viertel weiß allerdings, dass der koschere Metzger dem türkischen Kebab die Schulden bezahlt hat, weil der sich verschuldet hat und sein Geschäft sonst geschlossen worden wäre. Der koschere Metzger hat gesagt, er war 20 Jahre mein Nachbar, ich zahle ihm die Schulden und er zahlt mir das in Raten zurück. Das hat auch funktioniert: die langjährigen Nachbarschaften oder Geschäftsbeziehungen waren maßgeblicher als die Religionen.

 Fotos: kwasibanane

Fotos: kwasibanane

 Fotos: kwasibanane
 Fotos: kwasibanane

Wie passt das mit dem wachsenden Einfluss der Rechten in der Stadt zusammen? Bei der letzten Wahl in im Oktober in Wien hat die SPÖ nur knapp gewonnen.

Das ist ein gespenstischer Hintergrund, das muss man sagen. Im Alltag findet sich das hier aber nicht. Am Montag nach der Wahl haben wir uns hier getroffen. Die Rassisten hatten 30% bekommen und wir haben uns gesagt: Jeder Dritte ist ja anscheinend Faschist, wo sind die eigentlich? Wir saßen hier und zählten uns durch: »1,2,3 – du bist Faschist!« » Nein, bin ich nicht, ich bin von der kurdischen Freiheits-Partei!« oder »Nein, ich bin auch keiner, ich bin Mitglied der Kommunistischen Partei der proletarischen Leopoldstadt!« (Er lacht.) Hier im Bezirk waren es weniger, aber immer noch 20 %. Doch da haben wir den Verdacht, dass diese irgendwo in den Sozialbauten stecken, zwei U-Bahn-Stationen weiter. Dort haben früher die Sozialdemokraten ihren Parteimitgliedern diese Wohnungen vermittelt, das Viertel galt immer als rot. Aus irgendeinem Grund wählen jedoch jetzt sogar dort lebende Türken FPÖ.

Wie kann man das erklären?

Es gab einen Bericht im Fernsehen. Ein Journalist versuchte zu verstehen, warum Menschen, die billige Sozialwohnungen durch die SPÖ vermittelt bekommen, dann nicht SPÖ wählen, sondern die Rechte »Freiheitliche«. In Seestadt – einem neuen Viertel von Wien – wurden viele schöne Sozialwohnungen gebaut, mit Schwimmbad auf dem Dach, Fitnessstudio und Sauna und Waschmaschinen im Keller. Der Journalist fragte eine Frau, die dort in einer 100 Quadratmeter-Wohnung wohnt und die rechts wählte. Wieso? Ihre Antwort: »Schauen sie sich um: so viele Grünanlagen! Die waren von Anfang an von den Grünen geplant. Warum? Damit sie dann Zelte aufstellen können für die Flüchtlinge!« Wie kommt eine solche Einstellung zu Stande? Vermutlich erzählen die Anhänger der »Freiheitlichen« das von Wohnung zu Wohnung. Und es gehören zwei Dinge dazu. Eine perfide faschistische Partei und die Blödheit dieser Menschen.

Es gibt in der gegenwärtigen Debatte einen Satz, der mir auf die Nerven geht und den ich nicht mehr hören kann. Dieser Satz lautet: Man muss die Ängste der Menschen verstehen. Ich bin der Meinung, die ängstlichen Menschen sollen versuchen die aufgeklärten Menschen zu verstehen! Vor 20 Jahren haben ängstliche und besorgte Bürger gesagt, wir brauchen eine Bildungsreform. Es ist ganz entsetzlich wie an Schulen und Universitäten gespart wird, das kann nicht gut gehen. Wir haben Angst, dass in 20 Jahren immer weniger Menschen lesen und schreiben können, nicht mehr im Stande sein werden, Arbeit zu verrichten, weil sie so schlechte Bildung und Ausbildung bekommen haben. Und damals hat keiner gesagt: Wir müssen ihre Ängste verstehen, sondern man hat sie ignoriert. Und jetzt haben wir das Ergebnis, dass enorme Anzahl von menschen virtuelle Analphabeten sind und jetzt solle ich die Sorgen der Analphabeten verstehen! Das sehe ich nicht ein. Es gibt eine europäische Menschenrechtsdeklaration, verankert in der Verfassung, und wer gegen sie verstößt, soll bestraft werden. Es gibt ein Niveau, das man als Politiker nicht diskutieren muss.

Gibt es bei Juden auch diese Ängste?

Juden sind ganz normale Menschen – darunter ist wie überall ein gewisser Prozent verrückt und ein gewisser Prozent luzid, alles anderes liegt in der Mitte. Einige Juden haben hier rechts gewählt, weil sie gesagt haben, das schützt uns vor den Moslems.

Und was hätten sie so einem Jude gesagt:

Ich hätte gesagt: Du bist Meschugge!* (von hebräisch מְשׁוּגָּע für verrückt)

Bedeutet diese Steigerung von rechten Stimmungen auch eine Steigerung des Antisemitismus?

Den Eindruck habe ich nicht. Vor 20 Jahren habe ich antisemitische Leserbriefe bekommen und heute kriege ich noch 3 –5 antisemitische Postings, so in der Richtung: Wenn es ihnen nicht passt, gehen Sie doch nach Israel. Da hat sich überhaupt nichts geändert. Das ist nicht massiv, nichts Bedrohliches, es sind ein paar Verrückte. Der kollektive Sammelbegriff Ausländer hat den Hass gegen Juden ersetzt. Selbst überzeugte Antisemiten haben gewusst, es ist etwas unsauberes, und selbst wenn man versuchte, Ausschwitz zu leugnen, konnte man sich mit einem demonstrativen Antisemitismus nicht wirklich wohl fühlen. Eigentlich ist es für einen rassistischen, xenophoben Menschen befreiend, dass er in seiner Kritik an der Zuwanderung eine Möglichkeit sieht, sich auszudrücken, ohne sofort damit rechnen zu müssen, als Nazi beschimpft zu werden. Zu sagen »Ich finde Juden ein Problem« – selbst wenn man es so »findet«, ist irgendwie schwierig. Aber wenn man mit besorgten Stirn sagt: »ich sehe ein Problem in einer zu starken Zuwanderung«, kann es schon gehen, ohne als Nazi zu gelten. Und die sagen auch gern: »Ich bin kein Nazi, aber...«

Die Fortsetzung folgt: In der nächsten Nummer lesen Sie das ganze Interview mit Robert Menasse, in dem es um die Habsburger Monarchie als positives Beispiel von Interkulturalität geht, um Gegengifte gegen den wachsenden Nationalismus in den Europäischen Ländern und deren Regierungen und um ein Europa der Regionen. Aber auch um die »Unliebe« zu den Bergen und um weitere Themen – mit der »Menassischen« Neigung zu Paradoxen und viel wienerischem Humor.

 Fotos: kwasibanane

Fotos: kwasibanane

 Fotos: kwasibanane
 Fotos: kwasibanane

zurück